Eine Nasenpolypenoperation ist Schuld an dieser Hommage an gutes Brot. Der Journalist Walter Mayer kommt wieder zu seinem Geruchssinn. Damit folgt er frei nach Marcel Proust schreibend dem Duft seiner Kindheit. Schließlich war sein Großvater wandernder Pachtbäcker in Tirol und im Salzburger Land. Mayer zieht seine Kreise weiter. Für seine Recherche wandert er zwar im Salzburger Raurisertal auf die Kalchkendlalm zur backenden Einsiedlerin, es treibt ihn aber auch zu albanischen Ziegenhirten, zu Fatima Zohra, einer Berberin in der Medina von Marrakesch, zur Bäckerdynastie in der ehemaligen DDR und zu einem ehemaligen BBC-Journalisten, der 1976 ein paar Gramm getrockneten Borodinski-Sauerteig aus Leningrad im Socken nach England geschmuggelt hat.
Das ist gut recherchiert, flott geschrieben und atmosphärisch zugespitzt, dass die Holzofen-Idylle schon beinahe aus dem Buch duftet. Und doch räumt Mayer mit romantischen Vorstellungen auf. In unseren Breiten ist innerhalb einer Generation aus dem Handwerk ein Milliardengeschäft geworden. Modernes Backen – das ist die chromblitzende, surrende, sensorgesteuerte Industrie-Realität, die schon lange keine Bäckerhände mehr braucht. Das sind Backmischungen aus China. Sie sind in unsere Mägen eingezogen durch Bäckereiketten und Backboxen in den Supermärkten. Heiner Kamps ist als Ex-Chef von Deutschlands umsatzstärkster Bäckereikette Kronzeuge und Triebkraft dieser Transformation. Seine Sicht ist genauso aufschlussreich wie der Blick zurück auf die symbolische Bedeutung, die mythische Wirkung in Kirche und Kunstgeschichte und die historischen Episoden vom Emmer-Getreide am Nil über den 1939 gegründeten „Reichsvollkornbrotausschuss“ bis zum Malfa-Kraftma-Brot in der DDR-Mangelwirtschaft und der Brotrevolte 1981 in Marokko. „Alle Völkerkatastrophen sind reine Agrarkatastrophen“ schrieb Justus von Liebig, der Erfinder von Backpulver, vom Raubbau des Menschen am Boden. Brot erzählt immer Zeitgeschichte. Unsere essensneurotische Zeit pendelt zwischen dem Terror der Teiglinge, Unverträglichkeiten und Backkursen, die zurück zur jahrtausendealten Logik führen. Bei einer bewusst lebenden Elite ist eine zaghafte und gleichzeitig radikale Gegenrevolution im Gange. Nicht nur für sie ist dieses Buch.
Brot – Auf der Suche nach dem Duft des Lebens
Walter Mayer
Insel Verlag
(erschienen im Falter 43/17 am 25.Oktober 2017)