Die Polkappen sind Brennpunktregionen des Klimawandels. Die raschen Veränderungen spüren wir aber bald überall. Die Arktis ist Symbolregion der globalen Erwärmung. Sie gerät zunehmend in den Fokus. Marzio G. Mian lädt zur Polarexpedition im Kopf. Brace yourself! Winter is leaving.
Immer wieder wird die Stille von Dröhnen und Donnern zerrissen. Dann brechen ganze Eiswände ab. Riesig wie die Kreidefelsen von Dover oder die Pfeiler des Stephansdoms. Die einstürzenden Klippen lösen kleine Tsunamis aus und bei Tausenden Vögeln einen Sturm der Entrüstung.
Im Norden ist Einiges in Bewegung. „Jeder Eiswürfel, der in Grönland schmilzt, trifft unsere Zivilisation wie ein Stein, wird zur tödlichen Wassergranate auf Europas Felder, zum glühenden Staub in unseren Städten und zur Feuersbrunst in unseren Wäldern“, schreibt Marzio G. Mian apokalyptisch. Wie sonst kein Zweiter hat er die Erdregion rund um den Nordpol systematisch auf journalistische Art vermessen. In seinem neuen Buch lädt er zur Polarexpedition im Kopf.
Auch der Weltklimarat befasst sich in seinem neuesten Sonderbericht mit den Eiswelten und dem Stand der Ozeane. Zwei Jahre lang haben Forscher wissenschaftliche Literatur zusammengetragen und ausgewertet. Das Ergebnis: Die Gletscher schmelzen immer rascher. Der Meeresspiegel steigt. Von 2006 bis 2015 legte er mit fast vier Millimetern jährlich bedeutend schneller zu als in den Jahrzehnten zuvor. Bis 2100 könnte sich der Anstieg vervierfachen und insgesamt fast einen Meter erreichen. Küstenorte von der Beringsee bis nach North Slope versinken im Morast oder Meer. DieAuswirkungen der globalen Erwärmung auf Weltmeere, Permafrostböden und das Eis der Polkappen sind dramatisch. Sie betreffen uns alle. Das Ganze schaukelt sich nämlich auf: Das Rückstrahlvermögen der Erde – durch den Albedo-Feedback-Mechanismus – ist durch das zunehmend offenere Nordpolarmeer schlagartig von 60 auf 10 Prozent gesunken. Das beschleunigt die Erderwärmung weiter. Denn Eis reflektiert 50 bis 60 Prozent der Sonnenstrahlung, Wasser aber nur sechs Prozent. Simpel erklärt: In der Sommersonne erhitzen sich die schwarzen Autos am Parkplatz brütend heiß, die weißen Fahrzeuge aber nicht. Experten sprechen von der „arktischen Verstärkung“, einer Kettenreaktion, die sich unaufhaltsam fortsetzt.
Hals- und Eisbruch
Resignieren deswegen alle? Am 20. September startete die größte Arktis-Forschungsexpedition aller Zeiten. Mehr als 70 wissenschaftliche Institute aus fast 20 Ländern und Hunderte Wissenschaftler sind an dem 140 Millionen Euro schweren Projekt namens „Mosaic“ beteiligt. Der Forschungs-Eisbrecher „Polarstern wird von vier weiteren Eisbrechern sowie drei Flugzeugen versorgt und startete nun seine Reise. Nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse, zum Umweltschutz und aus Angst vor den klimatischen Veränderungen gerät die Symbolregion zunehmend in den Fokus. China träumt von der „blauen Seidenstraße“, Russland rüstet auf, Trump verkündet großspurig und einfältig den Wunsch „Grönland zu kaufen“. Die globale Erderwärmung sei der engste Verbündete all jener, die ihre Finger nach Grönland ausstrecken, meint Mian. Der wirtschaftliche, touristische, energiepolitische und militärstrategische Wettlauf hat längst begonnen. Immerhin liegen 40 Prozent aller fossilen Rohstoffvorkommen weltweit im arktischen Meeresboden. Die reagieren alarmiert, die anderen kommen auf die Idee in Grönland die größte Tagbaumine für Uran und seltene Erden zu errichten. Die Konsumwelt braucht sie für Supraleiter, Magnete, Handys, Glasfaser- und militärische Hochtechnologie. Und so ist in Narsaq das Kvanefjeld Projekt, eine risikante Mine, geplant. Im Buch „Die neue Arktis“ kommt ein Dorflehrer aus Narsaqzu Wort. Er berichtet von zunehmender Gewalt in Familien, Alkoholismus und sexuellem Missbrauch. Notschlafräume schützen bedrohte Kinder. Die Hälfte der arbeitsfähigen Menschen im Ort hat keinen Job. Nirgendswo ist die Selbstmordrate unter Jugendlichen so hoch. Sie finden keinen Sinn im Leben, fühlen sich unwohl in der Zeit der raschen Globalisierung. Viele in der indigenen Arktisbevölkerung kommen nicht zurecht mit der Kluft zwischen dem modernen globalen Menschen und der alten, traditionellen Jagdkultur. Auch auf diese Entwicklungen geht Mian in seinen Recherchen ein.
Der Eiswürfel, der in Grönland seit 2011 jährlich schmilzt fasst übrigens 375 Milliarden Tonnen Eis. Das ergibt einen Würfel von acht Kilometern Kantenlänge. Damit kann man 400 Millionen olympische Schwimmbecken füllen. Wenn nur die beiden größten, am stärksten schmelzenden Gletscher sich verflüssigen, stiegen die Meeresspiegel um einen Meter. Wenn ganz Grönland abschmilzt, um acht. Das National Snow and Ice Data Center (NSIDC) in den USA hat sich gerade zu Wort gemeldet: Das diesjährige arktische Meereis-Minimum ist erreicht.
(erschienen in den Salzburger Nachrichten am 5. Oktober 2019)