Free Speech Provider Jon Karlung, Chef des schwedischen Providers »Bahnhof«, versteht sich als »Free Speech Provider«. Er hostete die Wikileaks-Server, löschte zwei Stunden nach dem Aus für die Vorratsdatenspeicherung im April 2014 alle gespeicherten Daten und wurde im Oktober 2014 unter der Androhung von Millionenstrafen gezwungen, wieder Daten zu sammeln. Ein Gespräch über Überwachung, Datensammlung und Freiheit.
Was ist ein »Free Speech Provider« und warum setzen Sie sich gegen staatliche Überwachung digitaler Kommunikation ein?
Ich sehe mich als moderner Briefträger. Die Kommunikation, die über uns läuft, soll so privat und sicher wie möglich sein. Unser Geschäftsmodell schließt das Öffnen und Verwenden der Korrespondenzen unserer Kunden nicht ein.
Was die staatliche Überwachung betrifft: Es wäre auch naiv zu sagen, dass der Staat immer das Beste für uns möchte. Regierungen und Staatsverantwortung ändern sich. Das kann sich auch in eine negative, aggressive Richtung drehen. Außerdem: Was, wenn der Staat gehackt wird und Daten in die falschen Hände gelangen? Die Datenspeicherung bildet eine vollständige Kartei von uns allen ab. Sie zeigt, welchen Gruppen wir angehören und mit wem wir üblicherweise Kontakt haben. Im schlimmsten Fall sind Datenspeichereinrichtungen ein Werkzeug für eine fremde Macht. Sie servieren die Bürger auf dem Silbertablett.
Eine düstere Zukunftsvision?
Nicht nur, wir hatten das auch bereits in der Geschichte: Die Niederlande sind das Land in Westeuropa, in dem die meisten Juden im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden. Ein Grund dafür war die gut entwickelte niederländische Bürokratie mit akribisch genauem Bevölkerungsregister. Die deutschen Besatzungstruppen hatten damit einfach ein fertiges Werkzeug bei der Hand, ohne dass die niederländischen Behörden das bei ihrer Datenerhebung jemals so geplant hätten. Zeiten ändern sich und Regierungen ändern sich.
Sollte es also eine Art Kill Switch für gesammelte Daten geben?
Ja, zum Schutz unserer Daten und zu unserem eigenen Schutz sollte es diese Möglichkeit geben. Daten müssen schnell zerstört werden können, bevor es zum Missbrauch kommt und Dritte sie gegen uns einsetzen. In Kriegszeiten gab es auch eine Strategie, wie man rasch Aufzeichnungen und Bücher vernichtet, die dem Feind helfen würden. Heute gibt es kein Bewusstsein dafür, dass wir auf einem Ozean an Information sitzen. Falls diese Datenfülle als Waffe gegen uns genutzt wird, müssen wir etwas unternehmen können.
Unter welchen Voraussetzungen ist es sinnvoll, dass der Staat Überwachungsdaten nutzt?
Ich habe kein Problem damit, wenn jemand mich mit einem begründeten Verdacht auf eine illegale Handlung kontaktiert, zum Beispiel einem Terrorverdacht. Das ist ein Unterschied zur Vorratsdatenspeicherung, bei der es um eine Generalisierung geht, die die Gesellschaft selbst schädigt. Nicht nur der Schutz des Einzelnen und das Menschenrecht auf Privatsphäre sind wichtig, sondern auch die Gesundheit der Gesellschaft. Wir wollen nicht zurück in die Zeit, wo jeder jeden verdächtigt.
Überwachungsmaßnahmen sollten in einem gesunden Verhältnis zu den Maßnahmen stehen, die man gegen Terror setzt. Wenn man Daten untersuchen möchte, sollte das durch eine gerichtliche Anordnung rechtlich abgesichert sein. In Schweden gibt es überhaupt keine Verhältnismäßigkeit. Es braucht hier nicht einmal den Verdacht auf eine kriminelle Handlung.
Was haben Sie gemacht, als der Europäische Gerichtshof die Vorratsdatenspeicherung für grundrechtswidrig erklärt hat?
Zwei Stunden nach dieser Verlautbarung habe ich alle Datenaufnahmen zerstört. Ich habe den ganzen Scheiß gelöscht. Ohne zu fragen. »Wir machen bei der Vorratsdatenspeicherung nicht mehr mit«, haben wir gesagt. Das war bis Oktober 2014 dann auch so.
(Anmerkung: Schweden hat die Vorratsdatenspeicherung erst zu spät – und erst nach einer EU-Vertragsstrafe – eingeführt, dann aber noch nicht wieder zur Gänze aufgehoben.)
Was ist dann passiert?
Dann sandte uns die Post- och telestyrelsen – das ist die nationale Verwaltungsbehörde, die die Gesamtverantwortung im Bereich der Post und der elektronischen Kommunikation (Telekommunikation, IT und Radio) trägt – eine Strafandrohung: Wenn wir die Vorratsdatenspeicherung nicht wieder starten, müssten wir fünf Millionen Schwedenkronen zahlen.
Seitdem speichert Bahnhof die Daten also wieder.
Ja, wegen der Vorratsdatenspeicherung müssen wir die Daten jetzt wieder sechs Monate lang speichern. Allein die Meta-Daten, etwa die Information, wer wann welche IP-Adresse wie benutzt hat, schaffen den Behörden die Möglichkeit, Gruppen von Personen festzulegen, Widerstandsnester zu entdecken und zu sehen, wer mit wem vertraut ist. Daran sind die NSA und andere am meisten interessiert. Ich befürchte, dass diese Information auch eine Handelsware wird.
Um ein bisschen gegenzusteuern, bieten wir allen unseren Kunden jetzt aber den Internetzugang über VPN an. Damit wird die Information geteilt und zwischengelagert. Weil diese Teile nicht beisammen sind, sind sie sicherer vor Einsicht und Missbrauch. Weder wir noch jemand anderer können in die Daten einsehen. Die Information ist lost in between.
Also setzen Sie auf neue Geheimnisse gegen Überwacher und Geheimdienste?
Früher dachte ich immer, neben Love, Peace and Understanding wäre Transparenz ein unbedingter Wert. Jetzt weiß ich, auch Transparenz hat ihre Kehrseite. In einer Gesellschaft sollte man auch Geheimnisse haben – aus Privatgründen und aus kommerziellen Gründen. Die richtige Balance zwischen Privatsphäre und Transparenz zu finden ist schwer. Mit Eingriffen in diese Grundrechte, mit Überwachung muss man vorsichtig sein: Nicht jeder soll überwacht werden, diese Mittel sollen nur gezielt eingesetzt werden. Mehr Daten sind nicht die Lösung für Sicherheitsprobleme: Die Polizei kann mit diesem großen Datenheuhaufen ohnehin nicht hantieren.
Die Staatspolizei SÄPO wollte aber noch mehr Daten und direkten Zugriff auf die Kommunikation Ihrer Kunden …
Die SÄPO war auf einer Mission: Sie wollten alle Anbieter überreden, unsere Daten an ihr Polizeisystem zu koppeln. Sie könnten dann automatisch jederzeit Daten abrufen, ohne überhaupt fragen zu müssen.
Sie erklärten uns: »Wenn du uns nicht anzapfen lässt, wirst du verantwortlich sein für die Attacke von Terroristen.« Das ist politische Angstmache. Ich halte das für eine schlechte Idee. Dahinter steckt das Prinzip, das dem der Stasi nicht unähnlich ist. Erich Mielke, der ab 1957 Minister für Staatssicherheit der DDR war, pflegte zu sagen: »Um in Sicherheit zu sein, muss man alles wissen.«
Der Kampf gegen Überwachung und Vorratsdatenspeicherung scheint aber verloren. Geben Sie jetzt auf?
Nein, wir haben jetzt nur eine andere Baustelle eröffnet. Es geht darum, die Datenbox nur dann öffnen zu müssen, wenn verdächtige Beweismittel erbracht wurden. Ich zähle da auf die Unterstützung aus Europa …
(entstanden im Rahmen von Eurotours 2015)