140 Zeichen für die Kunst

Bei Social-Media-Veranstaltungen wie dem Tweetup teilen Museumsbesucher Eindrücke aus der Führung direkt auf Facebook, Twitter und Instagram.

Für manche hat es den Charakter eines Rituals. Sie gehen ins Museum wie Reger, der misanthrope Held in Thomas Bernhards Roman „Alte Meister“. Er sitzt regelmäßig im fiktiven Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums, weil dieses Haus seine „Geistesproduktionsstätte“ ist. Dort, auf der Sitzbank im Saal VI, kann er am besten nachdenken, kritisieren und sich über die Welt im Allgemeinen und Österreich im Besonderen ärgern. Die Institution wirkt dann ähnlich wie ein Gotteshaus: ruhig, sakral, entschleunigend. Es sperrt für ein paar Stunden die reale Welt aus.

Blogger-Treffen, Insta-Tours, Tweetups
Eine gänzlich gegenteilige Wirkung erzeugen neuere Möglichkeiten der Kunsterfahrung. Statt im eigenen Tempo sinnierend durch die Ausstellungshallen zu schlendern, um sich der Welt zu verschließen, holt man die Welt – die virtuelle nämlich – ins Museum hinein, indem man seine Bildeindrücke über Plattformen wie Facebook, Twitter und Instagram teilt. Das ist zunehmend nicht nur erlaubt, sondern erwünscht: Weil die authentische Bewerbung im Internet Reichweite und potenzielle Besucher aus dem Bekanntenkreis der Kunstliebhaber bringt, organisieren immer mehr Kulturinstitutionen Blogger-Treffen, sogenannte Insta-Tours oder Tweetups. Letzteres – eine Wortschöpfung aus Twitter und Meetup – ist ein persönliches Treffen von Menschen, die sich meist schon durch den Kurznachrichtendienst kennen.

Das Bank-Austria-Kunstforum gehört zu den österreichischen Pionieren der Tweetup-Veranstalter. Schon anlässlich der Ausstellung „Eyes Wide Open – Stanley Kubrick als Fotograf“ lud es im Mai des Vorjahres zu einer solchen Spezialführung. Zwei Monate davor eröffnete das Grazer Joanneum sein Naturkundemuseum mit einer „musealen Tweetup-Premiere“.

#FromRussiaWithLove lautet der Hashtag für das Treffen zur Ausstellung „Liebe in Zeiten der Revolution – Künstlerpaare der russischen Avantgarde“. Unter diesem Schlagwort kann jeder im Internet die Postings und Fotos der Teilnehmer mitverfolgen. Aber zuerst einmal müssen die Inhalte geschaffen werden. Wenn sich das Publikum rund um die Kunstvermittlerin Karen Oldenburg schart, dann aber den Blick senkt und emsig auf Smartphone und Tablet herumtippt, wirken die gewohnten Grenzen der Höflichkeit verschoben: „Jetzt ist Zeit zum Fotografieren“, verkündet sie nach einer kurzen Info zu den ersten vier Gemälden. Der Aufseher mag skeptisch blicken, doch der Museum-Knigge gilt heute nicht. „Sie posten immer ganze Collagen. Das ergibt einen schönen Eindruck“, sagt die Kunstvermittlerin anerkennend zu Chris Pape, einer Bloggerin. Pape macht selbst Touren durch die Wiener Innenstadt und ist mit einer Arbeitskollegin ins Kunstforum gekommen. Die Idee, auch Tweetup-Führungen zu veranstalten, gefällt ihr immer mehr. Auch für Karen Oldenburg ist es die erste Museumstour mit sozialen Medien. „Ich mag experimentellere Vermittlungsformate, die aus der Performance kommen“, sagt sie.

Es regiert der Sinn der Flüchtigkeit
Die Kunstvermittlerin schätzt das lockere Flair dieser Spezialführung. Sie mag den Austausch mit den Museumsbesuchern, die viel häufiger nachfragen, und ist überzeugt: „Es bleibt Luft für eigene Gedanken und mehr in Erinnerung.“ In der Praxis halten sich die Blogger mit eigenen Wertungen und Eindrücken noch zurück. Eher teilen sie ihr frisch erworbenes Wissen, indem sie in ihren Postings die Kunstvermittlerin zitieren.

Social Media steht immer für starke Meinungen und gleichzeitig im Ruf, selbstreferenziell und oberflächlich zu sein. Das bringt das rasche Tempo mit sich. „Langsamer bitte, ich brauche Zeit, um das alles zu extrahieren!“, vermeldet eine Teilnehmerin. Eine solche Spezialtour verlangt nach viel mehr Pausen, damit die Besucher ihre Eindrücke verarbeiten können. Dieser Vorgang bedeutet bei einem Tweetup: Mit einem Ohr zuhören und Bilder, Zitatfetzen und Stichworte in die Onlinewelt hinausschicken. Alles zeitgleich und bei Twitter auf nur 140 Zeichen komprimiert. Es regiert der Sinn der Flüchtigkeit. Mit der Entschleunigung ist es dann freilich nicht mehr weit her.

SOZIALE MEDIEN IM MUSEUM

Tweetups und andere Social-Media-Veranstaltungen gehören in Museen in Asien, Amerika, aber auch im deutschsprachigen Raum, wo 2011 das Deutsche Museum in München erstmals ein solches Event veranstaltete, mittlerweile zum Normalprogramm. In Österreich eröffnete das Grazer Joanneum sein Naturkundemuseum mit einer „musealen Tweetup-Premiere“. Das Bank-Austria-Kunstforum lud als erste Wiener Institution im Mai 2015 zur Führung mit Smartphone und Tablet. Fotos und Eindrücke im digitalen Raum zu teilen ist bei diesen Spezialführungen nicht nur erlaubt, sondern sogar ausdrücklich erwünscht.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 09.01.2016)

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