Wolfgang Thierse: „Zäune sind hilflose Versuche.“

Europa zur Festung zu erklären und Grenzen dichtzumachen ginge nur um den Preis der Barbarei. Das wäre richtig staatlich organisierte Unmenschlichkeit, meint Wolfgang Thierse.

Wolfgang Thierse war von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages. Er hielt die Keynote zur Tagung „Religious Fundamentalism“, die von der Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ veranstaltet wurde. Davor traf ich ihn zum Gespräch über die Ideologisierung von Religion und die Flüchtlingsthematik aus deutscher und gesamteuropäischer Sicht.

Auf welcher Basis können Religionsvertreter gegen fundamentalistische Tendenzen in ihren eigenen Reihen argumentativ Widerstand leisten?
Erstens: auf Basis der eigenen Religion, egal ob monotheistische oder andere. Denn im Kern geht es immer um die Mitmenschlichkeit – in der Überzeugung, dass alle Menschen Geschöpfe Gottes sind oder ein transzendentes Wesen haben. Ich glaube nicht, dass man religiösen Fundamentalismus durch Laizismus oder Atheismus überwinden kann. Zweitens: Der Respekt vor der Würde und dem Wahrheitsanspruch anderer. Daraus entsteht Toleranz und zwar nicht im Sinne herablassender Duldung, sondern im Sinne von Respekt und Anerkennung.

Was nährt die Radikalisierung von Jugendlichen in Europa und findet diese besonders durch den Islam statt?
Gegenwärtig gibt es jedenfalls nur dieses Problem, nämlich dass aus Europa Tausende Jugendliche – übrigens nicht nur junge Männer, sondern auch junge Frauen – zum IS ziehen. Das hat mit den sozialen und familiären Verhältnissen aus denen sie kommen, zu tun und außerdem sind Religionen immer in der Gefahr ideologisiert zu werden. Fundamentalismus ist eine Form der Ideologisierung von Religion, aber auch Religionslosigkeit kann ideologisieren werden: Hitler, Stalin, Mao Zedong waren religionslose politische Führer auf der Basis einer Ideologie.

Was macht Ideologie so gefährlich?
Wenn Religion zur Begründung von Gewalt missbraucht wird, haben sie die Religionsanhänger heftigst dagegen zu wehren. Die Instrumentalisierung ist gefährlich, weil sie Vereinfachung zu einem geschlossenen Weltbild bedeutet und dann Fragen und Zweifel nicht mehr erlaubt. Statt Glauben gibt es nur noch felsenfeste fanatisierte Überzeugung. Das hilft Menschen in unsicheren Situationen. Mindestens seit der Antisemitismusforschung wissen wir, dass Menschen in Ängsten, in sozialer Unsicherheit, in komplexen überwältigenden Situationen das Bedürfnis nach einfachen, klaren, schnellen Antworten haben. Wie der Antisemitismus eine solche klare Antwort zu geben schien, so scheint religiöser Fanatismus oder ideologischer Fundamentalismus, eine solche Antwort zu geben.

Welche Rolle spielt Religion in der aktuellen Flüchtlingsthematik?
Die meisten Flüchtlinge sind Muslime, meistens Araber, aber auch Afghanen oder Pakistaner. Der massenhafte Zustrom in europäische Länder wird ein Moment von Islamisierung erzeugen und die europäischen Gesellschaften konfliktreicher, aber auch vielfältiger machen.

Was zeichnet eine Einwanderungsgesellschaft aus?
Ich rieb mir die Augen, als ich in den 1990er Jahren von CDU- und CSU-Politikern im Bundestag hörte, Deutschland sei keine Einwanderungsgesellschaft. Schließlich lebten und arbeiteten schon seit Jahrzehnten mehrere Millionen Türken, Italiener, Griechen in Deutschland. Durch diese Lebenslüge hat man die Aufgabe der Integration nicht ernst genommen. Jetzt hoffentlich begreift man: Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft und wir müssen die Konsequenzen auch wahrnehmen.

Wie macht man das am Besten?
Zum Beispiel mit dem positiven Ermunterungssatz „Wir schaffen das“. Man soll auch darauf hinweisen, dass die Gastarbeiter zum deutschen Reichtum beigetragen haben und sich erinnern, dass Deutschland 12 Millionen deutsche Vertriebene aufgenommen und integriert hat. Dass die Mehrheit – gewissermaßen in Rückblick auf die Geschichte – eine besondere Verpflichtung zum Willkommen empfindet, ist wichtig.

Reicht es aus, nur die positiven Seiten anzusprechen?
Man soll auch nüchtern darüber reden, dass die Zuwanderung eine große organisatorische, praktische und finanzielle, wie soziale Herausforderung ist und wissen, dass die Integrationsaufgabe nicht innerhalb von Monaten zu lösen ist. Es kann Jahrzehnte dauern. Doch wenn wir sie erfolgreich meistern, wird Deutschland nicht nur bloß bunter, sondern auch wohlhabender werden.

Was halten Sie davon, wenn man im Jahr 2015 von einer „Festung Europa“ spricht?
„Festung Europa“ ist natürlich ein problematischer Begriff, obwohl wir das ja erleben: Unsere ost-europäischen Nachbarn möchten, dass die Grenzen dichtgemacht werden. Europa zur Festung zu erklären wird nicht viel helfen. Wenn Fluchtursachen so dramatisch sind wie jetzt – Bürgerkrieg, Krieg, Armut – finden Menschen immer einen Weg in diesen reichen Kontinent.

Was sollte also nun auf der EU-Agenda stehen?
Europa muss sich einigen. Wenn es das nicht schafft, sehe ich schwarz für Europa. Es muss Flüchtlingsströme steuern, gerecht in Europa verteilen und damit neu entflammte, verstärkt nationale Egoismen überwinden. Zudem braucht es eine gemeinsame Politik zur entschlossenen und effektiven Bekämpfung von Fluchtursachen. Im syrischen Bürgerkrieg kann Europa nur mit den USA und Russland, aber vor allem mit den vier Regionalmächten – Türkei, Saudi-Arabien, Iran und Ägypten – etwas erreichen. In weiterer Folge müssen wir über Welthandelsordnung und über faire -bedingungen reden, damit diese irrsinnigen Ungleichgewichte verringert werden. Ein Schritt wird sein, korrupte Regierungen zu richtigen, verantwortlichen zu machen. Indem ich das alles aufzähle, wird klar: Es gibt keine schnelle Lösung. Wir dürfen uns nichts vormachen: Das ist unerhört schwierig und es wird auch lange dauern.

Braucht es dafür Zäune?
Zäune sind hilflose Versuche, ein dramatisches Problem zu begrenzen. Ich verstehe die Hilflosigkeit und will da gar nicht von oben herab argumentieren, aber wir dürfen den Leuten nicht sagen, dass Dichtmachen die schnelle Problemlösung sei. Wir sehen ja, dass selbst der Zaun zwischen den USA und Mexiko nicht wirklich hilft. Ich wüsste nicht, wie man den ganzen Kontinent abriegeln könnte, das ginge nur um den Preis der Barbarei – richtig staatlich organisierte Unmenschlichkeit. Das möchte ich nicht.

Wie stehen Sie zur aktuellen Politik der Kanzlerin Merkel?
Die Kanzlerin gerät unter Druck der eigenen Partei. Sie hat eine sehr gut nachvollziehbare humanitäre Geste gemacht. Man konnte die Folgen nicht abschätzen und auch nicht wissen, dass die anderen europäischen Länder so tun, als würde sie das Problem nichts angehen. Dass alle die Flüchtlinge schnell nach Deutschland schicken, hat die Lage dramatisch verschärft. Hier diskutiert man über den rechtlich angemessenen, wie menschlich anständige Weg, um diesen Flüchtlingsstrom zu begrenzen, zu steuern und Lasten angemessen – in Deutschland, wie Europa – zu verteilen. Natürlich geht das nicht ohne Streit, aber Europa muss sich solidarisch zeigen oder es gibt das gemeinsame Europa nicht mehr. So dramatisch will ich’s ausdrücken.

Wie kann man sich die spezielle Situation im Osten Deutschlands erklären?
Ohne Zweifel ist in Ostdeutschland Ausländerfeindlichkeit größer und schärfer. Dafür gibt es verschiedene Erklärungsmöglichkeiten, die nichts rechtfertigen sollen. Einerseits steckt dahinter die 70-jährige autoritäre Geschichte, die wir Ostdeutschen hinter uns haben. Autoritäre Prägungen wirken lange nach. Andererseits, die Tatsache, dass die Ostdeutschen bis 1990 nicht den alltäglichen, selbstverständlichen Umgang mit Fremdem und Fremden erlernen konnten. Drittens: Die Umwälzung aller Lebensverhältnisse hat bei vielen Menschen tiefe Verunsicherung – nicht nur sozialer, sondern auch moralisch-ideeller Art – erzeugt. Diese unsichere Situation haben sich rechtsextremistische Ideologen zu Nutze gemacht.

Warum wirkt in dieser Unsicherheit Religion nicht?
Das SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands)-Regime war nur in einem Punkt wirklich – unter Anführungszeichen – erfolgreich: Bei der radikalen Entkirchlichung der Ostdeutschen. Die Ex-DDR und Tschechien sind die religionslosesten Territorien der ganzen Welt. Deswegen ist es ja einigermaßen absurd, dass dort – in Dresden – mehrheitlich Religionslose das christliche Abendland gegen die Islamisierung verteidigen. Darin äußert sich noch einmal eine diffuse Abwehr von Religion überhaupt und dann noch einer „fremden“.

(erschienen in der „Furche“ am 12. 11. 2015)

Wolfgang Thierse

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