Die gefällte Erinnerung

Die Philosoph Ludwig Wittgenstein (1899 – 1951) vollendete seinen berühmten „Tractatus“ in der Villa seines Onkel. Nun droht das Kulturdenkmal in einer Wohnsiedlung zu verschwinden.

Die Villa liegt in dem kleinen Ort Oberalm bei Hallein, keine halbe Stunde Fahrzeit von Salzburg entfernt. Im Leben des Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein spielte sie eine wichtige Rolle. Das im Volksmund als Fischer-Villa bezeichnete Haus gehörte der Wiener Familie Wittgenstein, genauer gesagt Paul Wittgenstein oder auch „Onkel Paul“, wie er von allen genannt wurde. Hier arbeitete der junge Philosoph an seinem Hauptwerk, wodurch der Ort eine kulturhistorische Bedeutung bekommt. Seit die Eigentümerin die Absicht äußerte, die Villa abzureißen, gehen die Wogen hoch. Verliert das Land ein steinernes Dokument von Weltrang?

Europa 1918. Der Kontinent brennt. Im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs bekommt Ludwig Wittgenstein Fronturlaub. Seit sechs Jahren schreibt der damals 29-jährige an seinem Werk, der „Logisch-philosophischen Abhandlung“, in der Oberalmer Villa will er sie fertigstellen. In Briefen an seinen Lehrer und Mentor Bertrand Russell hatte er mehrmals Zweifel geäußert, ob es jemals dazu kommen würde: „Wenn ich das Ende dieses Krieges nicht mehr erlebe, so muss ich mich darauf gefasst machen, dass meine ganze Arbeit verloren geht.“

Der Urlaub bei Onkel Paul bringt den Durchbruch. 1922 wird das Manuskript unter dem Titel „Tractatus Logico-Philosophicus“ erscheinen. Das nur 60 Seiten starke Buch enthält die Essenz von Wittgensteins Logik und gilt als philosophischer Grundlagentext des 20. Jahrhunderts. „Meinem Bruder Ludwig hat Onkel Paul, während dieser an seinem ersten philosophischen Buch schrieb, die schönste Gastfreundschaft geboten“, erinnert sich Ludwigs Schwester Hermine. Und auch der Autor dankt im Manuskript im August 1918 seinem Gastgeber „für die liebevolle Aufmunterung“.

Lange Zeit war sich die Wittgenstein-Forschung nicht sicher über den genauen Standort des Hauses. Man hatte den Bau in Hallein vermutet, wohin die Briefe an Paul Wittgenstein adressiert waren. Seit 2011 steht fest, dass es die Fischer-Villa ist. Wenn sich die Fertigstellung des „Tractatus Logico-Philosophicus“ im Sommer 2018 zum 100. Mal jährt, könnten auf dem dreieckigen Grundstück in Oberalm allerdings Bagger stehen. Im Frühling 2014 äußerte die heutige Besitzerin den Wunsch, das von ihrem Vater geerbte Haus abzureißen.

Unverschämtes Ansinnen
Dagegen machte eine Bürgerinitiative um den Architekturhistoriker Norbert Mayr und den Germanisten Karl Müller mobil. Sie betrachten die Villa als Erinnerungsort ersten Ranges. Ein öffentlich zugängliches Wittgenstein-Zentrum könnte die Sommerfrischevilla als Ausstellungs- und Veranstaltungsort nutzen. Die Wittgenstein-Community träumt von Symposien, einem philosophischen Café, kammermusikalischen Projekten und Ausstellungen zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen.

Die Eigentümerin, die Salzburger Gynäkologin Michaela Boeckl, überzeugt das nicht. Sie möchte auf dem 1800 Quadratmeter großen Grundstück Wohnungen errichten. Im Gespräch mit der Ärztin stellt sich heraus, dass ihr die kulturhistorische Bedeutung des Ortes durchaus bewusst ist. Dass Paul Wittgenstein hier lebte und Neffe Ludwig ihn besuchte, sei bereits in ihrer Kindheit ein offenes Geheimnis gewesen. Von Abriss ist inzwischen keine Rede mehr. Boeckl spricht nun von einer „Integrierung des Gebäudes in eine Wohnanlage“. Nach Fertigstellung könne sich die Initiative ja eine Wohnung erwerben, teilt sie dem Falter in einem Telefonat mit.

Am Bundesdenkmalamt (BDA) wird Boeckls Vorhaben nicht scheitern. Die BDA-Gutachter prüften den Fall und kamen zu dem Ergebnis, dass Ludwig hier lediglich „unbeträchtliche Schlussarbeiten“ am „Tractatus“ geleistet habe. Daher bekommt die architektonisch unbedeutende Villa aus dem späten 19. Jahrhundert keinen Denkmalschutz. Von der Behörde bestätigt, richtet sich der Zorn der Hauseigentümerin gegen die Wittgenstein-Fans. Mit deren „unverschämtem Ansinnen“ konfrontiert und auch von den vielen Medienanfragen entnervt, gedenkt Boeckl, den Protest von nun an zu ignorieren.

Der Lokalaugenschein des Falter beschränkt sich auf ein Spechteln durch den Maschendraht. Die Villa steht zwischen hohen Eschen, Buchen und Fichten. Wildwüchsige Haselsträucher säumen den ramponierten Zaun. Der Halleiner Baumeister Ignaz Miller plante und errichtete das Gebäude 1873/74, Paul Wittgenstein erwarb es im Jahre 1889, fünf Jahre später erweiterte er es.

Paul Wittgenstein war eine starke Bezugsperson für den jungen Ludwig. Onkel Paul und die Sommerfrische in Oberalm waren immer wieder ein Ausgleich oder Rückzugsort für den an sich zweifelnden Intellektuellen. Zermürbende Selbstkritik und ein unersättliches Perfektionsstreben seien typisch für den ganzen Wittgenstein-Clan, erklärt Dorothea Salzer, eines von Pauls 18 Urenkelkindern.

Besuch von Brahms
Salzer, eine Ärztin, öffnet die Tür zu ihrer Wiener Wohnung und gibt damit Einblick in die Welt der Wittgensteins. Bei einem Glas Erdbeernektar erläutert sie anekdotenreich die Geschichte der Familie. Auf dem Küchentisch breitet sie vor dem Gast einen handgeschriebenen Stammbaum auf, um die vielen Verästelungen der kinderreichen Dynastie zu zeigen.

Karl Wittgenstein (1847–1913), der Vater Ludwigs und dessen Bruders Paul, war einer der mächtigen Industriellen des Kontinents. Als Kunstmäzen finanzierte er den Bau des Secession-Gebäudes maßgeblich mit, gab bei Gustav Klimt Porträts in Auftrag. „Mit Sigmund Freud gesprochen war Karl ein Übervater“, schildert Salzer.

Die neun Kinder bekamen eine spartanische Erziehung. Sie mussten ein Handwerk lernen, um nicht versnobt und verkopft zu werden. Drei der fünf Söhne begingen Selbstmord, die beiden anderen Söhne, Ludwig und Paul, wurden berühmt, aber anders, als es sich der Vater erhofft hatte. Sie stiegen nicht in das Firmen- und Finanzimperium von Karl Wittgenstein ein, sondern wählten die Musik und die Philosophie.

Paul Wittgenstein (1887–1961) kennt man als den begnadeten Pianisten, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verlor und dem Maurice Ravel ein Klavierkonzert für die linke Hand widmete. Der andere Sohn, jüngstes Kind der Familie, ist Ludwig. Er kam 1889 auf die Welt und trug den Namen Wittgenstein in die Welt hinaus.

Kunst stand im Mittelpunkt des Familienlebens. Gemeinsames Musizieren – im Wiener Palais in der Argentinierstraße gab es angeblich sieben Klaviere – war ebenso selbstverständlich wie der gedankliche Austausch mit Musikern. Komponisten wie Johannes Brahms kamen zum Musizieren vorbei. Der Musikenthusiasmus der Wittgensteins habe zuweilen ans Pathologische gegrenzt, schreibt Alexander Waugh in seinem Buch über die Familie.

„Wenn Karl Wittgenstein der Business-man war, dann war Paul der Künstler“, erläutert Dorothea Salzer. Paul war selbst Maler und einer der frühesten Förderer und Freunde von Josef Hoffmann, was erklärt, warum die Villa in Oberalm zuweilen als Werk des Jugendstilarchitekten galt. Dorothea Salzer zeigt dem Gast Porträtbilder, die längst zerstört wären, hätte die Familie Pauls Wunsch erfüllt. Testamentarisch ließ er festhalten, dass die Bilder nach seinem Tod vernichtet werden. Auch er war ein selbstzweifelnder Perfektionist in seiner Malkunst und ließ neben den Großen der Kunstgeschichte nichts gelten.

Dorothea Salzer unterstützt die Initiative Villa Wittgenstein Oberalm, auch wenn sich in den letzten Jahren bereits viele mit dem berühmten Namen schmückten. Die Republik benannte den Wittgenstein-Preis nach dem Philosophen, ohne die Familie gefragt zu haben. Das Land Niederösterreich wollte einen neuen Forschungscampus „Wittgenstein Institute of Technology“ nennen, wiederum ohne die Zustimmung der Nachfahren abzuwarten.

Die Ärztin wundert sich darüber, wie begehrt der Name Ludwig Wittgenstein auf symbolischer Ebene ist, während der reale Ort bei den zuständigen staatlichen Stellen mit Gleichgültigkeit bedacht wird. „Wenn es jetzt darum geht, ein gutes Wort einzulegen für die kluge Nutzung eines wichtigen Wittgenstein-Ortes, setzt man sich von politischer Seite nicht dafür ein“, bemängelt Salzer und fährt mit ihren Erzählungen über ihre Vorfahren fort.

Ludwig sei ein selbstloser Mensch gewesen, darin seinem kunstsinnigen Onkel nicht unähnlich. Im Jahr 1913 starb Karl Wittgenstein, im Jahr darauf verschenkte Ludwig sein Erbe, ein auch nach heutigen Maßstäben riesiges Vermögen. Einen Großteil bekamen die Geschwister, größere Geldbeträge gingen auch an mittellose Künstler wie Georg Trakl, Else Lasker-Schüler und Oskar Kokoschka. Danach meldete sich Wittgenstein freiwillig zum Kriegsdienst. Nebenbei arbeitete er an seinem philosophischen Werk.

Drei Manuskriptbände aus dieser Zeit zeigen die Vorarbeiten zur „Logisch-philosophischen Abhandlung“. Während des Kriegsdienstes stand er im Kontakt mit Onkel Paul in Oberalm. Auf einer Feldpostkarte von 1914 schreibt Paul an Ludwig: „In Oberalm habe ich links von Deinem Zimmer die beiden rückwärtigen Zimmer für 4 Verwundete eingerichtet.“

Ihr Verhältnis war ein inniges, bezeugt der Briefwechsel zwischen den beiden. Besonders im Sommer 1918 ist Paul nach dessen nervenaufreibendem Einsatz an der Italienfront seinem Neffen eine wichtige Stütze. Als Ludwig erfährt, dass sein heimlicher Geliebter David Pinsent am 8. Mai 1918 mit einem Flugzeug tödlich verunglückt ist, ermuntert ihn der Onkel, an seinem Buch weiterzuarbeiten und lädt ihn zu sich nach Oberalm ein. In jenen Wochen des Fronturlaubs wird aus dem „Prototractatus“ der eigentliche „Tractatus Logico-Philosophicus“. Ludwig widmet das Werk David Pinsent, dem „ersten und einzigen Freund“, wie er in einem Brief an die Mutter des Verstorbenen schreibt. Der „Tractatus“ soll das einzige Werk Wittgensteins bleiben, das zu Lebzeiten veröffentlicht wird.

Die Wittgenstein-Hütte
Wer „Wittgenstein-Haus“ hört, denkt an eine Villa im dritten Wiener Gemeindebezirk. Ludwig Wittgenstein versuchte sich für das Haus seiner Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein selbst als Architekt, gemeinsam mit dem Loos-Schüler Paul Engelmann.
Der bulgarische Staat kaufte die Villa und quartierte ein Kulturinstitut ein. Wo vorher ein Garten mit mächtigen Bäumen war, steht heute ein Bürohochhaus. Architekturhistorisch besitzt die Gründerzeitvilla in Oberalm natürlich nicht den Stellenwert dieser Inkunabel der Moderne.

Kulturhistorisch sieht die Sache anders aus, allerdings nicht in den Augen des Bundesdenkmalamtes. Um das Wittgenstein-Haus in Oberalm im Sinne des Denkmalschutzgesetzes als Kulturgut einzustufen, müsste der Verlust eine „Beeinträchtigung des nationalen Kulturgutbestandes“ bedeuten. Das von der Initiative Villa Wittgenstein Oberalm in Auftrag gegebenen Gutachten lässt darauf schließen, dass die Villa einen Schutz verdient.

Es gibt in Österreich kein Denkmal, das mit Pauls Haus vergleichbar wäre. Es ist der einzige reale Ort, der mit Wittgensteins Philosophie direkt in Verbindung gebracht werden kann. Andere Gebäude, etwa die Familienvillen in der Wiener Alleegasse (heute Argentinierstraße) und in Neuwaldegg, existieren nicht mehr und hätten auch deutlich weniger Bezug zum „Tractatus“.

Weitere Orte, die für die Entstehung des Werks wichtig sind, liegen im Ausland. Wittgensteins Nachlass befindet sich größtenteils in Cambridge, wo er studierte und später auch lehrte. Der zweite Wittgenstein-Ort ist Skjolden in Norwegen, wo er mit David Pinsent 1913 eine Holzhütte erwarb und mit Unterbrechungen fünf Jahre seines Lebens verbrachte.

Das Häuschen stand an einem Berghang, in Sichtweite mündet ein gewaltiger Wasserfall in einen See. Hier suchte Ludwig Wittgenstein immer wieder die Einsamkeit und den Blick in die Ferne. Über diesen Aufenthalt weiß die Wissenschaft erstaunlicherweise mehr als über die Entstehungsgeschichte des epochalen „Tractatus“, die man nun seit kurzem in Oberalm verorten kann. Die Hütte in Norwegen wurde 1957 abgetragen, eine Initiative setzt sich für die Rekonstruktion ein.

Das Urteil des Bundesdenkmalamts über das Wittgenstein-Haus in Oberalm ist insofern erstaunlich, als die Behörde in einem vergleichbaren Fall zu einem ganz anderen Ergebnis kam. Wittgenstein war von 1920 bis 1922 Volksschullehrer im niederösterreichischen Dorf Trattenbach. Nach dem Krieg wohnte der in freiwilliger Armut lebende Philosoph in einer Kammer im Nebengebäude des Gasthauses Zum Braunen Hirschen. Dieser Aufenthalt war Grund genug, das Gebäude 1984 unter Denkmalschutz zu stellen.

Die Initiative Villa Wittgenstein Oberalm hat inzwischen hunderte Unterschriften gesammelt. Wissenschaftler aus der ganzen Welt melden sich zu Wort. Einer von ihnen, Ray Monk von der University of Southampton, plant einen Film über Wittgenstein, in dem auch Oberalm vorkommt. Einen Teil seines historisches Flairs hat der Ort inzwischen bereits eingebüßt. Anfang Mai kamen Holzarbeiter und fällten die Baumriesen. Als Ludwig Wittgenstein damals, im August 1918, die letzten Zeilen des „Tractatus“ schrieb, hörte er ihre Blätter rauschen.
(erschienen im FALTER 24/15 vom 09.06.2015)

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